Donnerstag, 30. Oktober 2014

Das Ding aus dem Watt




Die diesjährige Gruselstory zu Halloween(dafür diesen Sonntag kein Post).Hinweis:diese Geschichte ist nicht übermäßig blutrünstig,aber trotzdem nichts für Kinder.Also dann gruseliges Vergnügen!

Gott, war das schon so lange her? Fast 30 Jahre, kaum zu glauben! Nun fuhr er die Landstrasse entlang, nach Sandersiel. Zum ersten Mal, seit damals.
Rings herum Weiden, Wiesen und Felder, abgelöst von Moorlandschaft. Flach, wild, herb, das war Friesland, Das war die Nordseeküste.
Rotorange ging hinter dem Deich die Sonne unter, auf den er zu fuhr. Kleine Dörfer tauchten,auf, waren schnell durchfahren ,und  gingen wieder in die Landschaft über . Hier und dort tauchte ein Bauernhof an seiner Seite auf.
Er war hier geboren worden und hatte seine ersten Lebensjahre hier verbracht. Doch dann ,er war kaum drei Jahre alt, änderte sich alles, mit dem Tod seiner Eltern, von dem er nicht mehr viel wusste.
Vielleicht war das auch ein Grund ,warum er nach Sandersiel zurück kehrte. Er wusste  nur noch ,das er zunächst auf den Nachbarhof  kam, und dann zu einer Pflegefamilie nach Bremen, wo er aufwuchs. Die Stadt war Carsten Joorn zur zweiten Heimat geworden.
Er hatte sich dort eine Existenz aufgebaut, hatte Kunst studiert und gerade eine Galerie eröffnet. Kurz sah er sich im Spiegel an. Ein ebenmäßiges, längliches ,leicht gebräuntes  Gesicht mit Grübchen unter dem Kinn, einer etwas großen Nase und blauen Augen, das von  welligem dunkelblonden Haar umrahmt war. Er war fast Einsneunzig groß und schlank.
Die ersten Häuser, und die Ortseinfahrt von Sandersiel kamen in Sicht. Wie in vielen anderen Orten auch ,hatte sich einiges verändert, aber irgendwie war hier doch die Zeit stehen geblieben. Das merkte er, je mehr er in  Richtung Stadtmitte fuhr, und dort lag erst einmal sein Ziel: das Rathaus.
Ein paar Minuten später hatte er es erreicht. Er stellte seinen Wagen auf einem Besucherparkplatz ab, und betrat das alte Gebäude ,das sich ,seit er weg war, scheinbar gar nicht verändert hatte. Drinnen allerdings hatte man die Einrichtung, wo es nötig gewesen war, ein wenig modernisiert, hatte dies aber zurückhaltend getan, um den nostalgischen Charakter des Gebäudes zu erhalten. Auf einem Ständer lag ein Stapel Zeitungen. Er betrachtete das Titelblatt, die Zeitung war von Heute, und es handelte sich um ein Lokalblatt. Er sah ein großes Foto von Polizisten und Hilfskräften, die einen Leichnam bargen. Darüber die Überschrift: “Vermisster Wattwanderer aufgerissener Kehle aufgefunden“ darunter ein Untertitel: “Zweiter Todesfall nach der Leiche vom Deich“ Warum hatte er plötzlich ein Bild seiner toten Eltern im Kopf ? Er wandte sich von der Zeitung ab, schüttelte den Kopf, um die Bilder los zu werden, und ging ins Büro des Stadtamtes, wo man ihn schon erwartete.

*
„Herr Joorn, herzlich willkommen in Sandersiel“, begrüßte ihn Bürgermeister Franz Scheerboom, der auch der Immobilienverwalter war. Er war ein mittelgroßer beleibter Mittfünfziger mit hoher Stirn und grauem Haarkranz.
„Schön, das sie es einrichten konnten. Ich hoffe,sie hatten eine gute Fahrt“
„Ja, ganz angenehm“, meinte Carsten.
„Schön, schön. Ja, wir hatten ihnen ja geschrieben, das sie Erbe ihrer Eltern, und damit ihres Hauses hier im Ort sind. War übrigens gar nicht so leicht sie zu finden. Wir hatten nur die Adresse der Pflegefamilie ,in die sie gekommen waren. Danach verlor sich ihre Spur. Ja, das Haus wurde während der ganzen Zeit so weit es ging instand gehalten. Das eine oder andere musste erneuert werden. Es ist sicher nicht im Idealzustand, aber es ist bewohnbar.“
„Vielen Dank. ich werde mir ansehen, und dann entscheiden, ob ich einziehe, oder es verkaufe.“
„Ja, dann hier…“, er öffnete seine Schreibtisch-Schublade, und entnahm ihm einen Gegenstand, „…ist der Schlüssel“ er langte ihn rüber, und Carsten nahm ihn.
„Danke“. Er betrachtete kurz den Schlüsselbund, den der Bürgermeister ihm ausgehändigt hatte.
„Sagen sie, Ich habe draußen in der Zeitung diesen Bericht gesehen über die Wattwanderer gesehen. Man muss sich doch keine Sorgen machen?“
Scheerboom wurde sichtlich Nervös.
„Nicht doch. bisher ist es noch gar nicht klar ,ob es ein Mord war.  Die Obduktion läuft noch, auch bei der anderen Leiche. Aber es kommt immer wieder mal vor ,das Wattwanderer hier verunglücken, weil sie die Risiken falsch einsetzen. wir empfehlen immer einen Wattführer.“
Carsten schien es ,als wäre Scheerboom selbst nicht von dem überzeugt, was er sagte.
Der Bürgermeister erhob sich, nahm sich eine Aktentasche, steckte ein paar Dokumente hinein,und kam um den Schreibtisch herum zu ihm.
„So, und nun lassen sie uns zum Haus fahren. Ich fahre voraus, und führe sie.“
Carsten wusste in etwa noch ,wo das Haus sein musste, aber allein hätte er doch nicht hin gefunden, so war ganz froh ,hin geführt zu werden.
Als sie das Büro verließen, stand ein Mann in der Eingangshalle, dem man von fern schon den alten Seebären ansah. Er war recht groß, von kräftiger, sehniger, Statur, und der leicht breitbeinigen Haltung, die man von Seeleuten kennt.
Er musste schon über Achtzig sein. Sein Gesicht war von Falten tief durchfurcht und vom Wetter gegerbt, mit einem breiten Mund, einer Adlernase, die wohl schon einmal gebrochen gewesen war ,und leicht schief wirkte, und wasserhellen, blauen Augen.
Er hatte volles, weißes Haar, auf dem eine alte Schiffermütze saß. Seine faltigen Hände wirkten wie Schaufeln.
Bekleidet war er ebenfalls wie ein Seemann. Eine starke, schwarze Leinenhose ,darüber ein dunkelblaues Hemd ,und darüber eine schwarze Teerjacke. Die Füße steckten in derben schwarze Lederstiefeln.
Als die beiden heran gekommen waren, fasste der Alte Carsten scharf ins Auge.
„Du bist also doch gekommen. Hättest bleiben sollen, wo du warst. Wenn dir dein Leben  und dein Verstand lieb sind, dann verschwindest du wieder von hier.“ Seine Stimme war tief und klang voll und klar.
„Verschwinde hier Michel, und verbreite deine Schauergeschichten woanders“
Der Alte griff in seine Tasche , zog eine alte Meerschaumpfeife heraus, und wies mit dem Mundstück auf die Zeitung. Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen.
„Will er dir erzählen, das seien Unfälle gewesen?“
„Was soll es denn sonst gewesen sein?“, murrte Scheerboom.
„Glauben sie nicht, das es Unglücksfälle waren, Herr…“
„Behrend, Michel Behrend .Alle wissen was es war, aber sie wollen es nicht wahrhaben.“
„Was wollen sie nicht wahr haben?“
„Dieses Dorf ist verflucht“, sagte Michel, und sein Gesicht war wieder ernst „Es ist der Tod aus dem Watt, der sich diese Beiden geholt hat, so wie er es vor Dreißig Jahren mit deinen Eltern tat. Und er wird sich noch mehr holen“
„Moment mal, was wissen sie von meinen Eltern? Hören sie…“ Aber der Bürgermeister hatte ihn weg gezogen.
„Also, er weiß gar nichts von ihren Eltern. er erzählt gern Schauergeschichten, das ist alles“
Nein, nein. Wenn es die Möglichkeit gibt, zu erfahren, was mit meinen Eltern passiert ist…“
„Dann weiß er es sicher nicht“
„Sicher?“, Carsten drehte sich um, aber der Alte war verschwunden.
„Sehen sie?“, meinte Scheerboom. „Kommen sie, lassen sie uns zum Haus fahren.“
Carsten ging mit, doch er war aufgewühlt, und mit einem mulmigen, unheimlichen Gefühl, bestieg er sein Fahrzeug, und folgte dem des Bürgermeisters.

*
Das Haus lag am Ende eines schmalen Weges, der von der Hauptstrasse Richtung Meer führte. Es war ein altes Gutshaus, das direkt hinter dem Deich lag.
Auf der Rückseite führte eine Holztreppe den Schutzwall hinauf, über den man zum Wasser gelangte.
Die letzten Sonnenstrahlen tauchten alles in rotgoldenes Licht.
Sie betraten das Haus durch den Haupteingang. Es war ländlich eingerichtet Roh wirkende Bauernmöbel. Holzschränke, Tische und Bänke. Stühle aus Holz und Reet.
Die Küche funktionell, mit Kühlschrank, Gasherd, Spüle und Eckbank.
Das Wohnzimmer war alt, aber gemütlich eingerichtet. Eine große Eichenschrankwand, Leder-Sitzgruppe, und ein wuchtiger Couchtisch aus Eiche. Den alten Fernseher würde er wohl gegen etwas zeitgemässeres austauschen, wenn er denn hier blieb.
Im Obergeschoß befanden sich die Schlafzimmer mit einfachen Bauernbetten.
 Nach dem Rundgang ,nahmen sie kurz im Wohnzimmer Platz.
„So, nun haben sie gesehen, das das Haus in annehmbaren Zustand ist. Wenn sie mir den Empfang und die Bewohnbarkeit quittieren, wäre ich schon wieder weg.“
Er entnahm seiner Aktentasche zwei Blätter Papier ,legte sie vor ihn hin, und drückte ihm eine Füller in die Hand. Carsten las sich die Dokumente aufmerksam durch, und unterschrieb sie. Scheerboom steckte sie befriedigt wieder in seine Tasche, dann stand er auf, und Carsten brachte ihn zur Tür.
„Ach,wenn ich ihnen noch einen Tip geben darf, schenken sie Michels Schauermärchen keine Beachtung. Sie können hier beruhigt schlafen, und Morgen sehen wir uns in meinem Büro wieder.“ Sie verabschiedeten sich ,und er ging.
Carsten ging durch´ s Haus, und sah sich um. Dann beschloss er in den Garten zu gehen. Verwundert stellte er fest, das der gar nicht so verwildert wurde ,wie er erwartet hatte. Auch ihn hatte man gepflegt. Mittlerer Weile setzte die Dunkelheit ein, aber beschloss noch kurz auf den Deich zu gehen. Die Holztreppe war feucht, aber nicht morsch. Er ging die Stufen hoch und stand schließlich auf dem Deich.
Von hier aus konnte er weit über das Meer sehen, das sich jetzt zurück gezogen hatte, denn es war grad Ebbe. Glitzernd lag das Watt vor ihm unter dem sternenklaren Himmel. Oder fast klar. Als er den Blick nach Links schweifen lies, sah er eine Nebelbank. Eine kleine nur. Dennoch waberte der Nebel dicht über- ja, nur über dieser Stelle! Aber er blieb nicht dort. Er schien sich zu bewegen, und mittendrin war ein Licht, wie von einer Laterne oder einer Lampe. Und das schien es auch zu sein, denn es schaukelte und bewegte sich ebenfalls.
Gebannt beobachtete er den Nebel und das Licht, die sich in der Ferne auf die Küste zu bewegten. Was das oder wer ? Wattwanderer waren doch so spät nicht unterwegs.
„Du bist also hier geblieben“ Die tiefe Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er wandte sich um. Neben ihm stand Michel Behrend.
„Ja, und eventuell bleibe ich auch“., meinte Carsten trotzig. Ist schließlich mein Haus, und meine Heimat.“
Der Alte lachte rau.
„So, deine Heimat. Sieh mal dort“ Er wies mit der Hand auf über das trocken gefallene Meer in Richtung des unheimlichen Nebels mit dem Licht.
„Er kommt. Heute Nacht wird wieder jemand sterben, so viel steht fest. Wehe dem, der jetzt ins Watt geht.“
„Wer ist das ein Mensch?“
„Kein Mensch. Das ist der Tod aus dem Watt, unser Fluch. Ich habe dir doch gesagt, dieses Dorf ist verflucht. Und der Fluch bringt den Tod. Wie es auch vor Dreißig Jahren war, und Dreißig Jahre davor. Alle Dreißig Jahre kommt er. Darum noch mal: Wenn dir dein Leben lieb ist, geh wieder fort.“
„Was für ein Fluch? Und sie haben meine Eltern erwähnt, was wissen sie davon, was damals passierte?“
„Oh je, du weißt es wirklich nicht mehr hm? Nun gut, ich habe dich damals gefunden“, er wandte sich um. dort in eurem Haus. Wimmernd hast du neben deinen toten Eltern gesessen in ihrem Blut. Er hat sie sich auch geholt.“
„Wer?“
Der Alte dachte kurz nach, ehe er sagte:
„Drüben am Hafen steht eine alte Fischerkate, Hafenweg 5.Komm Morgen Früh dort hin, dann werde ich dir alles erzählen. Nur eins noch: Halte dich Heute Nacht fern vom Watt!“
„Aber wieso erzählen sie mir nicht jetzt…“ weiter kam Carsten nicht, denn aus der Richtung, des unheimlichen Lichts, drang ein schrei zu ihnen herüber. Unmenschlich, dem Heulen eines Wolfes ähnlich.
Unwillkürlich drehte er den Kopf in die Richtung, aus der der Ton kam. Dann wandte er sich wieder zu Michel Behrend um, doch  der alte Mann war verschwunden.
*

Bürgermeister Scheerboom hatte noch etwas länger gearbeitet. Jetzt machte er sich mit seinem  Assistenten Rune Jansen auf den Heimweg. Sie schritten durch die jetzt ausgestorbene Rathaushalle, löschten alle Lichter, um schließlich das Rathaus zu verlassen.
Jansen öffnete die Tür, und sie schritten hinaus. Es war schon dunkel, und Nebel sammelte sich vor ihnen.
Jansen zog die Tür hinter sich zu, und wandte sich um. Nun.. wer ist das denn? Auch der Bürgermeister blickte gebannt nach vorn.
Dort stand im Nebel eine riesenhafte Gestalt, fast zwei Meter groß, mit einem langen, schwarzen Mantel, ein ziemlich altertümliches Stück, und ziemlich abgerissen, eine derbe, schwarze Hose ,und schwere Stiefel. Die Hände steckten in Handschuhen. Den Kopf bedeckte ein breiter Schlapphut, so das man das Gesicht nicht sehen konnte. Nur die Augen ,die orangerot glühten. In der Linken hielt der Unheimliche eine alte Laterne, in der anderen einen Hakenförmig gebogenen Malspieker.
„Hallo“, rief der Bürgermeister „Wer sind sie. Ich kenne sie nicht.“ Keine Antwort.
„Hallo, ich habe sie etwas gefragt!“
Der unheimliche antwortete immer noch nicht. Stattdessen schritt er langsam auf die beiden Männer zu, und blieb schließlich vor dem Bürgermeister stehen. Er drehte das Werkzeug in seiner Hand mit der Spitze nach Oben, und noch ehe einer etwas tun konnte ,stieß er es dem entsetzten Scheerboom mit unglaublicher wucht in die Brust.
Blut sickerte dem Bürgermeister aus dem Mundwinkel, und aus der Brustwunde. Der unheimliche Killer drehte das Eisen in der Brust seines Opfers, was ein hässliches Knacken verursachte, und zog den blutigen Haken hinaus.
Er wandte sich dem entsetzten Jansen zu, und schwang den Malspieker direkt vor ihm, so das er ihm die Kehle von Ohr zu Ohr aufriss. Gurgelnd fasste der getroffene  sich an seinen Hals ,und sein Blut lief ihm durch die Hände. Die Beine versagten ihm den dienst ,und er stürzte sterbend zu Boden. Den Aufprall merkte schon nicht mehr.
Der unheimliche betrachtete seine am Boden liegenden Opfer ,dann stieß er einen unmenschlichen ,gutturalen Schrei aus, wandte sich um, und verschwand, und mit ihm der Nebel.
*
Nach dem Frühstück am nächsten Morgen, machte sich Carsten auf den weg zum Hafen. Er hatte nicht viel schlafen können, weil ihm immer wieder durch den Kopf ging, was ihm Michel eröffnet hatte. Seine Eltern Opfer eines Mordes? Kein Unglücksfall, wie man es ihm erzählt hatte!
Es war, als wäre er in ein tiefes Loch gestoßen wurden. Warum hatte man ihm das verheimlicht? Schön, im Kindesalter war es wohl noch nicht möglich, aber verdammt, er war doch längst erwachsen. Spätestens jetzt hätte man es ihm sagen müssen.
Der Weg zum Hafen führte am Deich entlang, und ein Stück durch den Ort. dort, am Hafenweg, der direkt am alten Hafenbecken entlang führte, standen, wie Perlen auf einer Schnur aneinander gereiht, mehrere alte Fischerkaten, fast gleich aussehend. Windschief, mit weiß getünchten Wänden und Reetdach. Vor einigen hingen Netze ausgebreitet, so auch vor Nummer 5.
Er  ging zum Haus, und klopfte an. Die Tür öffnete sich, und Michel Behrend erschien. Er trug eine graue Arbeitshose und einen dunkelblauen Troyer über einem weißen Hemd.
„Aha, da bist du ja. Komm rein.“ Er trat zur Seite, um den jungen Mann herein zu lassen.
Innen war alles einfach, fast spartanisch eingerichtet. Eine schmucklose Diele, in der nur ein paar einzelne Bilder an den Wänden hingen. Der Wohnraum, in den er geführt wurde, enthielt ein altes Sofa, Sessel, Holztisch, und auf der Seite zum Fenster hin, eine Küchenzeile mit einem alten Gasherd, auf dem ein Wasserkessel stand. Auf dem Tisch standen zwei Tee-Gedecke und eine Kanne.
„Setz dich, du nimmst doch sicher Tee.“
„Gern“ Carsten nahm auf dem Sofa Platz.
In diesem Moment pfiff auch der Kessel. Michel nahm ihn herunter, und goss das Wasser in die vorbereitete Kanne. Zunächst nur ein wenig nach ein paar Minuten den Rest. Er ließ noch einmal ziehen, dann schenkte er den Tee durch ein Sieb ein. Sie tranken vom Tee und Michel zündete sich eine Pfeife an.
„Gut“, sagte er, und tat einen Zug. „Ich will dir nun alles erzählen. Es begann im Jahre 1847. Damals war Sandersiel noch ein junger Ort. Ein Fischerdorf, wie es viele an der Küste gab.
Eines Tages nun, strandete ein Fremder mit einem kleinen Boot an seiner Küste. Es stellte sich heraus, das er Däne war. Man gab ihm ein kleines Leerstehendes Haus, und da er handwerklich geschickt war, konnte er sich mit Gelegenheitsjobs bei den Bauern und Fischern über Wasser halten.
Aber dann kam der Tag, an dem Dorf-Vorsteher Godeke Scheerboom …“
„Scheerboom?“, fragte Carsten erstaunt.
Michel lächelte.
„Ja, der jetzige Bürgermeister ist sein Nachfahre, oder war es.“
„War?“
Ach hast du ´s noch nicht mitbekommen? Scheerboom und sein Assistent wurden Heute Morgen tot aufgefunden. Mit aufgerissener Kehle und Scheerboom hatte eine große Wunde in der Brust. Ich hatte ja Gestern Abend gesagt, jemand wird sterben.“
*
Carsten war starr vor Entsetzen, nicht zuletzt angesichts der kaltblütigen Gelassenheit, mit der der Alte das erzählte.
„Aber weiter“, fuhr Michel fort Scheerboom fuhr eines Tages für Geschäfte nach Bremen, und da kam es, das er einen Steckbrief sah, der ihren unbekannten Gast, der sich Harm nannte, getreu dem Original wieder gab.
Da las er, das Harm Kjaerulf als Küstenpirat wegen verschiedener Verbrechen gesucht wurde ,unter anderem auch wegen Mordes. Wegen seiner Angewohnheit, mit jenem Werkzeug zu töten, trug er auch den Beinamen „Käpt´n  Malspieker.“
Auf seinen Kopf war eine hohe Belohnung ausgesetzt, und nachdem Scheerboom zurück gekehrt war, und im Dorf davon erzählt hatte, beschloß der Rat, das man ihn ausliefern, und sich das Geld verdienen wollte. Er und Vier andere stellten ihm eine Falle. Sie täuschten vor, das es ein Schiff gäbe, das ihn wieder in die Heimat brächte, und lockten ihn an Bord. Doch es war ein Schiff der Regierung, und Kjaerulf war rasch von Soldaten umstellt. Als er Gewahr wurde, das man ihn betrogen hatte ,da sah er auf die Fünf  Verschwörer, mit einem blick, der nicht anders als teuflisch genannt werden konnte. Hoch richtete er sich auf, und rief : „Der Verrat, der an mir geübt, wird dieses Dorf verfolgen, und seinen Bewohnern noch bitter Leid tun. Bis in alle Ewigkeit soll mein Fluch auf euch lasten, und immer, wenn Dreißig Jahre voll sind, werden Fünf von euch diesen schändlichen Verrat mit dem Leben bezahlen. Ewig sollen dies dorf und seine Bewohner verflucht sein!“
In diesem Moment riss er sich von den beiden Soldaten los ,die ihn gepackt hielten, sprang auf einen Matrosen zu, entriss ihm den Malspieker ,den er grad in der Hand hielt, stieß ihn sich in die Brust, und sprang hohnlachend über Bord.
Die Soldaten und Matrosen konnten an der Reeling sehen, wie er in den fluten versank, doch sein Leichnam wurde nie gefunden.
Da in den folgenden Tagen, Wochen, Monaten und dann auch Jahren nichts passierte vergas man schnell die Verwünschung des Piraten, doch nach Dreißig Jahren wurden tatsächlich fünf Menschen aus dem Dorf grausam ermordet, und es wird auch von einem Licht im Watt berichtet ,und dem Nebel, der mit ihm kommt, und seitdem wiederholt es sich alle Dreißig Jahre bis Heute. Und vor Dreißig Jahren traf es auch deine Eltern.
Ich kannte sie gut, musst du wissen. Du erinnerst dich wohl nicht mehr daran, das ich auf den knien geschaukelt habe. Na Ja, damals wollte ich bei ihnen vorbei und nach ihnen sehen. Als ich ankam, war die Haustür weit offen. Ich ging hinein, und im Wohnzimmer fand ich sie.  Tot. Am Boden liegend in ihrem Blut, und zwischen ihnen hast du gesessen und gewimmert.
Den Rest kennst du .du kamst erst zu Petersens auf den Hof, und dann nach Bremen zu der Pflegefamilie, wo offenkundig einiges aus dir geworden ist.
So, nun weißt du alles .Du kannst behaupten,. das das mit dem Fluch Quatsch ist, aber was du gestern gesehen hast, und die Toten, das sind Fakten.“
 „Aber warum alle Dreißig Jahre? Warum nicht alle Fünfzig oder so?“
 „Das weiß niemand, das ist eines der großen Rätsel. Aber jetzt habe ich noch was zu tun. Ich muss noch  n´ paar Netze flicken. Ob du bleibst oder nicht, halte dich nachts fern vom Watt, und gib auf dich Acht. “
*
Mit einem mulmigen Gefühl ging Carsten nach Hause, doch einem plötzlichen Impuls folgend ging er noch zum Rathaus, und dort, nach entsprechenden Nachfragen, in die Bibliothek, die ein lokales Zeitungsarchiv enthielt.
Er studierte die alten Zeitungen, und stellte mit wachsendem Entsetzen fest, das Michel Recht hatte. Tatsächlich fand er in Zeiträumen von Dreißig Jahren Berichte über ungeklärte Morde die immer auf dieselbe Art begangen wurden: Aufgeschlitzt oder erstochen mit einem Malspieker. In einigen Ausgaben gab es auch Berichte über seltsame Beobachtungen, wie ein Licht im Watt, und Nebel, der sich bewegte.
Verstört ging er nach Hause, und legte sich ein Wenig hin. Später erledigte er ein paar Reinigungs- und Ausbesserungsarbeiten, auch um sich abzulenken.
Nachmittags unternahm er einen Spaziergang am Deich, und ging dann früh schlafen.
*
Es war mitten in der Nacht, als er durch ein Poltern geweckt wurde. Er stand auf, zog sich notdürftig an, und ging aus dem Zimmer und zur Treppe. Langsam schritt er sie runter, doch kurz vor dem ende der Treppe, blieb er abrupt stehen.
Die Tür stand auf, der Flur war von dichtem weißem Nebel erfüllt, aus dem sich eine riesenhafte Gestalt heraus schälte. Sie trug einen langen, schwarzen Mantel, schwere Stiefel, und einen breiten Schlapphut, der kein Gesicht erkennen lies. Nur rotorange glühende Augen. In der Linken hielt der unheimliche eine Laterne, in der Rechten einen -Malspieker.
Er schritt auf Carsten zu. Der junge überlegte fieberhaft. Wohin nur? Aber es gab nur einen Weg, also drehte er sich um, und rannte die Treppe wieder hinauf. Er hörte die schweren Schritte des Verfolgers, aber wohin jetzt? Er rannte ins Schlafzimmer, zum Fenster, riss es auf, und lief auf den Balkon. Die Schlafzimmertür wurde aufgestoßen. Es waren etwa drei Meter nach unten, aber es gab keine Wahl. Er stieg über den Balkon, und sprang ab. Er kam auf dem Rasen auf, und prellte sich den Oberschenkel. Stöhnend raffte er sich auf, und sah nach Oben. Da stand der Unheimliche und sah auf ihn herab.
Er lief los, zum Auto! Also um das Haus herum, doch er prallte zurück. Da waberte der Nebel, und der Killer kam auf ihn zu , und nun? Es gab nur einen Weg. Zum Meer .Er rannte los, die Treppe hoch, verfolgt von den schweren Schritten des Unheimlichen, der ruhig hinter ihm her schritt, so als wäre er sich seiner Beute bereits absolut sicher. Und diese Beute hieß Carsten Joorn.
*
Michel Behrend stand auf dem Deich am Hafen, und blickte aufs Watt, welches das, sich zurück ziehende Meer frei gegeben hatte. Er sah über den Ort, in die Richtung, in der  Carstens  Haus lag. Und sah er den Nebel, und er sah das Licht.
Er tat einen tiefen Seufzer, dann murmelte er: “Es ist soweit .nun gut, bringen wir ´s zu Ende.“ Er ging hinunter zu seiner Kate, schloss alles ab, zog einen Mantel über, und machte sich auf den Weg.
*
Er lief um sein Leben. War über die Salzwiese weg, und stand vor dem Watt. Verzweifelt sah er sich um, und gewahrte seinen unheimlichen Verfolger, der ruhigen Schrittes auf ihn zu kam. Er hatte eigentlich keine Chance mehr. Wenn er nun ins Watt lief, hatte er bald nur noch die Wahl zu ertrinken, zu erfrieren oder aufgeschlitzt zu werden, aber hatte er eine Wahl? Wohl kaum, also lief er los ins Watt. Spürte Sand und Steine unter den Füssen. Die Turnschuhe, die er notdürftig angezogen hatte, waren schnell mit Wasser voll gesogen, und seine Füße nass. Trotzdem lief er weiter. Verzweifelt, voller Todesangst.
Aber wohin sollte er? Richtung offenes Meer? Dann konnte er auch gleich stehen bleiben, und den Verfolger erwarten.
Aber Moment, da kam ihm ein Gedanke. Gab es da nicht eine alte Rettungsbarke in Richtung Hafen? Mit einem Korb in einiger Höhe. Eine Hoffnung, eine ganz schwache nur, aber die einzige, also änderte die Richtung, und lief weiter, und achtete nicht auf die Seitenstiche, die er allmählich bekam.
*
 Michel Behrend ging bedächtig den Deich entlang, in Richtung von Carstens Haus .er beobachtete den Nebel, der jetzt im Watt war. er lenkte seine Schritte darauf zu. Ruhig, gefasst. Insgeheim hatte er immer gewusst, das dieser Tag kommen wollte. Als er an der entsprechenden Stelle war, ging er hinunter zum Watt. Entschlossen   ,gefasst. Er betrat das Watt , und blieb stehen. Die Stunde war gekommen.
*
Die Seitenstiche plagten ihn. Die Luft ging ihm aus .Er mobilisierte seine letzten Kraftreserven, während er hinter sich das rhythmische Platschen der Schritte seines Verfolgers hörte.
Da kam die Barke in sicht. Los, hol noch mal alles aus dir raus, feuerte er sich in Gedanken noch einmal selber an. Sicher, er war durchaus nicht unsportlich, aber eine Musterathlet war er beileibe auch nicht.
Jetzt kam er an der Barke an. Der Unheimliche mochte gut zehn Meter hinter ihm sein. Er begann mit letzter Kraft hinauf zu klettern, und kam schließlich oben im Korb an, er kletterte hinein,und kauerte sich zusammen. Da hörte er das Geräusch: „Klang, klang ,klang“ Sein Verfolger kletterte hoch ,in dem er sich mit dem Hakenförmigen Werkzeug hochzog.
Aus und vorbei. Lief im Augenblick des Todes nicht immer das Leben vor dem geistigen Auge ab? Müßig, jetzt noch darüber nach zu denken. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen, und erwartete das Ende.
*
Michel Behrend stand im Watt ,breitete die Arme aus, und rief laut in die Nacht hinein:
„Harm Kjaerulf, willst du nicht den fünften Verschwörer, der dessen Stimme damals entscheidend war.? Er ist hier ,komm und hol ihn dir! Hörst du Kjaerulf ? Komm und hol ihn dir!“
*
Carsten hatte mit dem Leben abgeschlossen .Er hielt die Augen geschlossen, und erwartete den Schmerz. Erwartete wie es schwarz wurde. Doch es geschah nichts. Nach ein paar Minuten öffnete er die Augen. Er sah hinunter. Sein Verfolger war verschwunden. Kein Nebel, gar nichts. Doch unten stieg jetzt das Wasser. Die Flut lief auf. Dann wohl doch erfrieren? Da, in der Ferne ertönte ein Schrei, wie er ihn Gestern Abend schon gehört hatte. Er lehnte sich wieder zurück .Jetzt konnte er nur noch warten, bis eventuell ein Schiff kam, und er wartete .Kälte und Müdigkeit ließen ihn irgendwann einschlafen.
*
Michel Behrend stand schon mit den Fußknöcheln im Wasser, die Arme noch ausgestreckt, als ihn plötzlich Nebel umwaberte, aus dem eine große Gestalt auftauchte, mit schwarzem Mantel und Schlapphut, die Laterne in der linken, und in der Rechten den Malspieker.
„ah ,da bist du ja“, sagte Michel ruhig.
Der unheimliche trat zu ihm, hob das Werkzeug, und rammte es dem alten in die Brust. Er sah stockte kurz, und riss dann den Haken wieder heraus.
Michel sank langsam zu Boden. Mein leben ist gelebt, aber ein anderes muss noch gelebt werden, und wird gelebt werden. Das war sein letzter Gedanke. So erleichtert starb er mit einem lächeln auf den Lippen.
Der unheimliche sah auf den Toten herab, den die Wellen der auflaufenden Flut umspülten, dann stieß er einen gutturalen Schrei uns, wandte sich ab und ging in Richtung offenes Meer, und mit ihm der Nebel, während er ging löste er sich langsam auf.
*
„Hey , aufwachen!“ Carsten schlug die Augen auf. Er befand sich in einer Koje auf einem Schiff. Unter ihm dröhnte der Motor. Über ihm stand lächelnd ein Seemann mit langem blondem Haar, und ebensolchem Vollbart in  Blaumannhose  und Pullover „Has ja man Glück gehabt, das wir grad an der ollen Barke vorbei gekommen sind.“
Carsten versuchte gequält das Lächeln zu erwidern, doch er war noch zu schwach.
Sie brachten ihn an Land, und zunächst zum Arzt. Dort erfuhr er auch, das man den alten Michel Behrend rot aus dem Meer gefischt hatte, mit einer entsetzlichen Wunde in der Brust.  
Später stand er wieder auf dem Deich hinter seinem Haus .Er überlegte, ob er hier bleiben sollte.  Er könnte seine Galerie auch von hier aus lenken. Es war inzwischen wieder Ebbe. Jetzt, im Licht der Sonne wirkte das Watt schön und beruhigend, wie es da glitzernd vor ihm lag. Es war eigentlich schön hier, und jetzt konnte er in seinem Haus in Frieden leben. Zumindest die nächsten Dreißig Jahre…